Mit der Digitalisierung nimmt ebenso die Macht von Social-Media zu. Auch wenn im Sozial- und Gesundheitswesen oft noch ein gespaltenes Verhältnis dazu besteht, sind Facebook, Instagram und Co. aus dem Leben nicht mehr weg zu denken. Bleibt aber die Frage: Kennt Social-Media unsere Klienten besser als wir?
Die Theorie
Die Abgrenzung zwischen Mensch und Maschine, sollte so einfach sein – kleiner Spoiler – ist sie aber nicht. Technik arbeitet mit Algorithmen, also festen Mustern, demgegenüber gelten die Fachkräfte als komplexe Wesen, die situativ Entscheidungen treffen können. In der Theorie ist eine Maschine also weder spontan noch flexibel. Die Fachkräfte fühlen oft sogar noch weitere Zeitverluste durch die Maschinen, z. B. bei Dokumentationspflichten, Zeiterfassung und Datenerfassung.
Die Praxis
Vorhersagbarkeit von Verhalten und Life-Hacks
Harari (2017) beschreibt im Homo Deus einen möglichen Entwurf einer Technokratisierung, die den Menschen von seinen bisherigen Daseinsannahmen entkoppelt. Mit der fortschreitenden Digitalisierung geraten die Grundfeste des Individualismus des 19. und 20. Jahrhunderts ins Zentrum der Betrachtung. Alleine schon die technischen Möglichkeiten für die Algorithmen und Berechnungen des 21. Jahrhunderts waren nicht gegeben, dadurch war es eher unwahrscheinlich, dass eine oder mehrere Institutionen eine solche Menge an Daten über eine Person kennen, dass sie eine fundierte Einschätzung der Person hätten vorgenehmen können. Diese Parameter haben sich grundlegend geändert, es stehen sowohl die Möglichkeiten für sog. Life-Hacks (Erkennen der menschlichen und evtl. individuellen Strukturen) und letztlich die Vorhersagbarkeit von Verhalten bereit. (Harari 2017)
In diesem Zusammenhang finden die Möglichkeiten von Google und Facebook besondere Aufmerksamkeit.
Facebook: Nach 300 Likes kennt die Maschine sie besser als ihr Ehepartner
An einer Facebook-Studie zur Einschätzung von Persönlichkeit und zukünftigem Verhalten, nahmen über 80.000 Freiwillige teil. Sie füllten einen Fragenbogen zu ihrer Persönlichkeit aus, danach wurden enge Freunde und Familienangehörige gebeten, die Person einzuschätzen. Facebook schätze die Personen anhand ihrer Likes deutlich zutreffender als die realen Personen ein. „70 Likes waren nötig, um besser als Freund abzuschneiden, 150 um Familienangehörige hinter sich zu lassen und 300, um die Ehepartner zu übertreffen.“ (Harari 2017, 459) Ein menschlicher Autor zog das Fazit „Wenn Menschen wichtige Lebensentscheidungen, etwa über Aktivitäten, Berufswege oder gar Liebes-partner, treffen müssen, könnten sie sich von ihren eigenen psychologischen Einschätzungen verab-schieden und sich auf Computer verlassen. Es ist durchaus möglich, dass solche datengesteuerten Entscheidungen das Leben der Menschen verbessern.“ (Ebd. 459)
Google: Das neue „Normal“ – Aktuelle Höchststände und Ausnahmen
Laut Harari wird menschliches Verhalten vielfach von der sog. Höchststand-Regel bestimmt. Verein-facht gesagt, haben Menschen die Tendenz, sich eher an jüngste und extreme Zwischenfälle zu erinnern. Daraus werden vielfach Entscheidungen getroffen, die keine logische Konsequenz aller Erlebnisse sind, sondern sowohl der momentanen Gemütsverfassung sowie der letzten Höchststände entsprechen.
Und es geht noch weiter, einfache künstliche Intelligenzen (KI) können wenig, starke künstliche Intelligenzen können lernen, spontan und flexibel sein.
Im Allgemeinen gilt die starke KI vielfach noch als Utopie, allerdings lassen sich schon in 2022 vielfache Beispiele für die Anwendung finden. Die Entwicklung und erste Versuche mit autonomen Fahrzeugen sind Beispiele für die Umsetzung von starker KI, weitere Beispiele sind:
- 2016 erreichte Roman „Der Tag, an dem ein Computer einen Roman schrieb“, einen vorderen Platz beim Hoshi Shinichi Literaturpreis. Der Roman wurde komplett von einer KI verfasst.
- Innerhalb von sog. Transhumanismus und Cyborg-Technologien, gibt es Menschen, die entweder aus medizinischen oder persönlichen Gründen dauerhaft mit Technik ihre Möglichkeiten erweitern. Hierzu gehört u. a. der farbenblinde Künstler Neil Harbisson (der mit einem System verbunden ist, dass Farben in Töne übersetzt) und Tim Cannon (der sich ein Thermometer implantieren ließ). Insgesamt medizinische Hilfsmittel wie Herzschrittmacher und Prothesen häufig als erste Stufe dieser Entwicklung wie gesehen. (Häußling 2019, 91 – 93)
- In einem Vergleich zwischen der „Treffsicherheit“ von Ärzten und Apothekern im Vergleich zu KI, hat die KI deutlich höhere Diagnosefähigkeiten bewiesen. Innerhalb eines Experiments diagnostizierte eine KI Krebs mit 90% Wahrscheinlichkeit, die menschlichen Ärzte mit 50%. (Harari 2017, 425)
- Die Mattersight Corporation setzt weltweit in Callcentern KI ein, die Kunden werden per Algorithmus analysiert (z. B. Stimmlage, Wortwahl, Gefühlslage) und werden so zu einem für sie passenden Berater verbunden. Laut den Studien von Mattersight haben sich durch den Algorithmus die Kundenzufriedenheit erheblich erhöht sowie die Kosten minimiert.
Ermel und Stüwe (2019), Kreidenweis (2018), Zillien (2009) und Kutscher (et al. 2020) sind sich einig, dass die digitale Transformation, momentan eher noch als Absichtserklärung und Zukunftsszenario zu verstehen ist, die neben den bekannten Chancen und Risiken, vornehmlicher einer individuellen Positionierung der Organisationen unterliegen. Komprimiert ausgedrückt, geht man in der Sozialen Arbeit davon aus, dass:
- die Digitalisierung einen signifikanten Wandel in der Lebenswelt und beruflichen Praxis aller Beteiligten darstellt,
- eine übergreifende Entwicklung eher von Verbänden und Politik skizziert wird,
- es für die Umsetzung der Herausforderungen personeller und finanzieller Ressourcen bedarf,
- wirtschaftliche Faktoren und Marktbedingungen vermehrt Einzug in die Soziale Arbeit erhalten werden,
- Management und Leadership in sozialen Organisationen sich in einem kontinuierlichen Wan-del befinden und Digitalisierung sowie der Umfang von digitaler Transformation zentraler Vorgaben und Rahmenbedingungen durch das Management von sozialen Organisationen bedarf,
- eine digitale Transformation reflektiert und schrittweise erfolgen muss, angepasst an die jeweilige Organisation,
- der Wandel zwingend mit einer Mischung von traditionellen und digitalen Angeboten einher gehen muss,
- die Digitalisierung kein Selbstzweck sein darf und für die Soziale Arbeit ihre Profession und Auftrag leitend sind.
Evans (2019) fasst es mit den Worten zusammen: „Technik first wäre der falsche Weg.“
Zu den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit in der Digitalisierung zählen Marktkommunikation (z. B. Plattformen und neue Servicefelder, Informationen für Bewerber, Angehörige, Ehrenamtliche, Öffentlichkeitsarbeit, Spendenmanagement), Leistungsdokumentation (z. B. elektronische Dokumentations- und Aktensysteme, sensorbasierte Systeme, Sprachdokumentation, kontextsensitive Dokumentation), Prozess- und Arbeitsgestaltung (z. B. Frühwarnsysteme, Sturzprophylaxe, digitale Assistenzsysteme, Tourenplaner, Robotik, Personaleinsatzplanung, Wissensmanagement, Telecare und digitales Überleitmanagement), Unterstützung/Kommunikation/Sicherheit für Klienten (z. B. soziale und psychosoziale Online-Beratung und Begleitung, Notfallassistenz, Frühwarnsysteme, Serious Games, Notrufplus, VR in der Biographiearbeit), Ausbildung und Training eLearning (z. B. Simulationen, Mediennutzung frühkindliche Bildung, KI-Systeme für Lernprozesse, Open Educational Resources (OER), Datenbrillen zur Anleitung) und Big Data sowie KI Fallanalytik (z. B. Chat-Bots, Mustererkennung für Arbeitsprozessgestaltung, lokales Kapazitätsmanagement).
Zusammenfassung
Face-To-Face bleibt weiterhin ein Qualitätsmerkmal sozialer Bereiche, das nicht von Social Media ersetzt werden kann. Zukünftig werden sich aber gerade die sozialen Bereiche damit auseinandersetzen müssen und sollen, wie eine solche Qualität erhalten bleiben kann.
Digitalisierung im Sozial- und Gesundheitswesen
Zukunftsnavigator für Sozial- und Gesundheitswesen
https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-38360-2
Titelbild Quelle: Foto von Solen Feyissa: https://www.pexels.com/de-de/foto/smartphone-bildschirm-touchscreen-handy-5744251/